Inklusion und Lebensfreude

Ein Kinderzirkus dient den Salesianern in Chemnitz als Instrument zur Inklusion von behinderten und benachteiligten Kindern

Auch Laufkugeln gehören ins Repertoire des Jugendzirkus.
Auch Laufkugeln gehören ins Repertoire des Jugendzirkus.

Chemnitz, 15.08.2014: Voller Konzentration und Hingabe bindet Cony Safroh die Enden von zwei Poi an die Finger ihres Sohnes Ouso. Der 17-Jährige sitzt im Rollstuhl und schaut sie ohne Worte an. „Draußen wartet das Publikum auf uns“, sagt die 52-Jährige, ohne aber nervös zu wirken, und schiebt den Rollstuhl durch den Vorhang raus in die Manege des Chemnitzer Kinderzirkus „Birikino“. Zur Musik kreist sie mit Ousos Händen und die Zentrifugalkraft lässt die Poi kunstvoll durch die Luft schweifen. Ouso genießt den Auftritt und später den lautstarken Applaus der rund hundert Besucher. „Das war anstrengend“, sagt Cony Safroh, als sie mit Ouso die Manege verlässt und wie nach einem Sprint schnauft. „Aber vor Publikum ist es einfach toll.“

Ouso und seine Mutter beim AuftrittSeit rund sieben Jahren trainiert Safroh mit ihren beiden Kindern im Kinderzirkus „Birikino“. Während die zehnjährige Tochter, Marie, in einer Einrad-Artistengruppe auftritt, führt der 17-jährige Ouso mit Hilfe seiner Mutter einfache Kunststücke in seinem Rollstuhl auf. Seit seiner Geburt ist Ouso schwerst-mehrfachbehindert, kann weder hören, sprechen noch laufen. Dennoch: „Er genießt jeden Auftritt“, ist sich seine Mutter sicher. „Denn Zirkus bringt ihm Lebensfreude.“

Gegründet haben die Salesianer Don Boscos den Kinderzirkus vor über zehn Jahren. „Wir haben gemerkt, dass Zirkus eine gute Möglichkeit ist, Kinder zu erreichen“, berichtet Pater Johannes Kaufmann, Leiter des Don-Bosco-Hauses auf dem Sonnenberg in Chemnitz. Seit über 20 Jahren betreiben die Patres die Jugendhilfeeinrichtung in der Plattenbausiedlung der ehemaligen „Karl-Marx-Stadt“. Hier leben die meisten Hartz-IV-Empfänger in Chemnitz, ein großer Teil der Kinder kommen aus schwierigen häuslichen Situationen. „Sie zählen in der Schule nicht unbedingt zu den besten und haben viele negative Erfahrungen gemacht“, so die Erfahrung des 37-jährigen Salesianers. Zirkus biete diesen Kindern die Möglichkeit, etwas zu lernen und durch Applaus des Publikums ein positives Feedback zu bekommen. „Diese Erfahrung verändert Kinder, weil sie merken, ich bin etwas wert, ich kann was.“ 

Stärkung des Selbstvertrauens

Ähnliche Erfahrungen machte auch die 19-jährige Kathleen. Seit acht Jahren ist die Einradfahrerin Teil der bunten Zirkus-Truppe und beobachtet heute als Trainerin der jungen Einrad-Artisten, wie gerade Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit Hilfe des Kinderzirkus gestärkt werden. „Es erweitert das Selbstvertrauen, wenn man in der Manege steht und etwas kann, was andere nicht können“, berichtet die junge Einrad-Trainerin über ihre „Schützlinge“. Die elfjährige Leonie pflichtet bei. Seit sie vier Jahre alt ist, besucht die Schülerin regelmäßig das Chemnitzer Don-Bosco-Haus, vor drei Jahren begann ihre junge „Artistenkarriere“ im Zirkus „Birikino“.

Die Einradfahrer trainieren im Freien.
Die Einradfahrer trainieren im Freien.

Kugellaufen, Einradfahren, im Zirkuszelt auch mal Luftakrobatik am Trapez: Über 20 Auftritte vor Publikum absolvierte die Elfjährige und berichtet stolz über die „Tourneen“ des Zirkus, etwa in Bayern und Italien, bei denen sie dabei war. „Ich mag alle Kunststücke, die mit anderen ausgeführt werden“, sagt Leonie und ergänzt, „denn wenn mal etwas schiefgeht, dann lachen alle mit und es macht doppelt so viel Spaß.“

Spaß in der Manege hat – bei aller Anstrengung – auch Cony Safroh mit dem 17-jährigen Ouso. „Zirkus fetzt“, sagt die Sonderschullehrerin. Sie erzählt, dass ihr schwerstmehrfachbehinderter Sohn zwar auf eine integrierte Mittelschule gehe, was in Sachsen die Ausnahme sei. „Aber dieser Zirkus ist wirklich Inklusion“, sagt die 52-Jährige. Denn im Umgang mit Ouso bauen auch die anderen Kinder ihre Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen ab.

„Instrument der Inklusion“

„Birikino“ hat aber mit Ouso nicht nur körperlich behinderte Jung-Artisten in seinen Reihen, sondern auch viele verhaltensauffällige und förderbedürftige Kinder. „Im Zirkus gelingt es diese Dinge nicht als trennend sondern bereichernd wahrzunehmen“, sagt Pater Johannes. Bei der Aufführung bringe jeder das ein, was er kann und das Publikum sei begeistert, beobachtet der Salesianer immer wieder. Der Kinderzirkus sei daher ein „Instrument“ bei der Inklusion. Doch die Freude komme dabei nicht zu kurz.

Auch das Schminken vor den Auftritten gehört dazu.
Auch das Schminken vor den Auftritten gehört dazu.

Pater Johannes schlüpft selbst gern in lässige Kapuzenpullis, um locker ein paar Diabolo-Tricks in der Manege zu zeigen. Oder lässt sich einen Schnurrbart aufmalen, um mit Sketchen Kinder zum Lachen zu bringen. „Das Gemeinsame öffnet Zugänge und Wege“, erklärt der junggebliebene Geistliche. Denn zwar sind 85 Prozent 241.000 Einwohner der alten Industriestadt nicht religiös und gerade einmal zwei von hundert Chemnitzern katholisch. Doch der Salesianer spricht von einer „großen Neugierde“ in der Bevölkerung. „Die Herausforderung ist, dass wir unseren Glauben in einer Sprache formulieren, die die kirchenfremden Menschen überhaupt verstehen.“

Und so bieten die Salesianer auch niederschwellige Angebote, zu entdecken, was Spiritualität oder Glaube heißt. Mit Handpupenstücken mit christlichen Inhalten, Impulsen oder auch Gottesdiensten im Zirkuszelt. „Zirkus hat eine andere Schwelle, als eine Kirche, um reinzugehen“, konstatiert der 37-jährige Salesianer. Es sei daher auch ein Medium, „um Menschen mit dem Sinn des Lebens, was Glaube sein kann, in Berührung zu bringen.“ Das „katholische Zirkuszelt“ werde in der glaubensfremden Umgebung Sachsens, insbesondere in der Chemnitzer Plattenbausiedlung Sonneberg, positiv wahrgenommen, ist sich Pater Johannes sicher. „Wahrgenommen als ein Ort, an dem Leben in all seiner Buntheit ist und wo Menschen wertgeschätzt werden.“

Gefördert und finanziell unterstützt wird die Arbeit der Salesianer und des Zirkus durch das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken.

Text und Fotos: Markus Nowak




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