Kirche als sicherer Ort für Glaubenserfahrung
Zum Abschluss der Tagung "Geistiger und Geistlicher Missbrauch": Sensibilität in der Seelsorge gefordert
Leipzig. In Leipzig ist heute (13. November 2020) die Online-Tagung „Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“ zu Ende gegangen, an der knapp 400 Personen teilgenommen haben. Eingeladen hatte dazu die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Sächsischen Landesärztekammer.
Bei der Pressekonferenz zum Abschluss der Tagung betonte Bischof Heinrich Timmerevers (Dresden-Meißen): „Wenn wir den geistigen und spirituellen Missbrauch thematisieren, nehmen wir keinen Deut von der Schwere der Schuld beim sexuellen Missbrauch. Dazu müssen wir stehen, es aufklären und künftig verhindern. Die geistliche Begleitung von Menschen ist zu wichtig für uns als Religionsgemeinschaft, als dass wir auf einen Reflexionsprozess warten können, der uns von außen angetragen wird.“ Es gehe nicht um den Schutz der Institution, denn: „Der Schutz der Würde des Einzelnen ist zu wichtig, als dass wir geistlichen Missbrauch im Raum unserer Kirche unreflektiert lassen könnten.“ Es brauche zuerst den Empathiewechsel als katholische Kirche und den Blick aus Sicht der Betroffenen. „Wenn wir zuerst fragen, welche Konsequenzen wir als Institution bekommen, verhindern wir den angemessenen Umgang mit Betroffenen“, so Bischof Timmerevers.
Unterschätzte Gefahr mit gravierenden Folgen
Dr. Katharina Anna Fuchs, Psychologin am Psychologischen Institut der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, ergänzte, dass geistiger Missbrauch eine unterschätzte Gefahr mit gravierenden Folgen für die körperliche, psychische und seelische Gesundheit der Betroffenen sei, der neben dem Glauben auch die Beziehung zu Gott erschüttern oder gar zerstören könne. Für die Kirche gelte es nun, die Augen nicht vor geistlichem Missbrauch zu verschließen, sondern den Betroffenen ein offenes Ohr und Glauben zu schenken. „Präventionsmaßnahmen und konkrete Hilfsangebote sollten sich an den Bedürfnissen Betroffener orientieren. Dafür ist interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig, bei der auch kirchenexterne Experten einbezogen werden.“ Regelmäßige Schulungen bilden dabei die Grundlage für die Arbeit geistlicher Begleiterinnen und Begleiter. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sollten das transparente Handeln auf allen Ebenen leiten, so Dr. Fuchs.
Die Erfurter Kirchenrechtlerin Prof. Dr. Myriam Wijlens hob hervor, dass es eine Umkehr in der Haltung hin zum Schutz und zu der Würde des Menschen geben müsse. Bezogen auf staatliches Recht solle ein flexibler Entwicklungsprozess stattfinden und erweitert werden, wo erforderlich. Unter Prävention verstehe sie zu reflektieren, wie Menschen in der Kirche gut aufgehoben sein können. Außerdem müssten Faktoren identifiziert werden, die übergriffiges Verhalten implizieren bzw. diesem vorzubeugen. Prof. Wiljens schlug vor, eine Checkliste zur Überprüfung geistlicher Gemeinschaften zu schaffen und anhand dieser regelmäßige Visitationen in Gemeinschaften vorzunehmen. Sie merkte an, dass Menschen, die sich in Situationen befänden, in denen sie leicht verletzbar seien, besonderen Schutz erfahren müssten. Hierfür benötige es qualifizierte Ansprechpersonen, die auf Grundlage des bestehenden Rechts beraten und zur Aufarbeitung geistigen Missbrauchs beitragen. „Nun gilt es das, was im Dunkeln liegt, auch aufzudecken. Das bestehende Kirchenrecht ist dabei kein Allheilmittel.“ Prof. Wijlens forderte zur Überlegung heraus, welche weiteren Konsequenzen, auch in Bezug auf das Kirchenrecht, gezogen werden müssen.
Geistliche Begleitung als Wurzel kirchlichen Handelns
Bischof Dr. Felix Genn (Münster), Vorsitzender der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste, dankte den Betroffenen für ihren Mut, auch gegen Widerstände, das Erlebte offenzulegen. Er wünsche sich, dass diese Berichte in den Blickpunkt gerückt werden. Denn geistliche Begleitung treffe die Wurzel kirchlichen Handelns. „Geistlicher Missbrauch ist eine Form des Machtmissbrauchs und hat gravierende Auswirkungen auf die emotionale und psychologische Befindlichkeit von Menschen und besitzt neben der individuellen auch eine systemische Komponente.“ Bischof Genn sagte zu, dass sich die Kommission intensiv mit den vielen auf der Tagung aufgeworfenen Fragen befassen und entsprechende Vorschläge für die Bischofskonferenz erarbeiten werde. Fragen nach gelingender geistlicher Begleitung und Leitung, Präventionsschulungen, der Einrichtung von Anlaufstellen für Betroffene, nach Qualifizierungsmaßnahmen für kirchliches Personal, gesunden und transparenten Strukturen in allen kirchlichen Einrichtungen und Gruppen müssten dabei geklärt werden. Es bleibe notwendig, „bei der Thematik interdisziplinär mit der Psychologie und Psychiatrie, der Rechtswissenschaft und den unterschiedlichen theologischen Disziplinen zusammenzuarbeiten, wie wir es auf dieser Tagung gewinnbringend und fruchtbar erlebt haben“, so Bischof Genn.
Bischof Timmerevers benannte außerdem konkrete Schritte, wie das Thema des geistigen Missbrauchs künftig im Bistum Dresden-Meißen aufgearbeitet werden solle: Dazu werde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Kriterien zur Definition geistlichen Missbrauchs und Verfahren im Umgang mit den Betroffenen entwickeln solle. Außerdem würden entsprechende Ansprechpersonen beauftragt und benannt. Bischof Timmerevers betonte, dass es ihm ein Anliegen sei, in der Deutschen Bischofskonferenz zu einem abgestimmten Umgehen mit der Thematik zu kommen: „Lassen Sie uns den Marathon gemeinsam begehen. Es wird eine weite Strecke zur Freiheit.“
Akademiedirektor Dr. Thomas Arnold sieht sich durch die Tagung ermutigt: „Die digitale Version einer so großen Tagung war für uns als Akademie eine Herausforderung. Aus meiner Sicht ist der Versuch geglückt und ermutigt, diesen Weg des Digitalen und Analogen fortzusetzen. Die Kirche befasst sich auch in der Pandemie mit für sie relevanten Themen. Ich bin demütig schweigend angesichts des Leids durch spirituellen Missbrauch, andererseits schreit das erlangte Wissen danach, sich innerhalb der Kirche ein neues Bewusstsein für charismatische Leitung, die Defizite existierender Machtstrukturen und deren teils spirituelle Überhöhung zu entwickeln. Die Akademien werden hierfür auch weiterhin ihren Beitrag leisten“, so Dr. Arnold.