„Mir ist um die Macht des Christlichen nicht bange“
Caritas-Präsidentin Welskop-Deffaa eröffnete in Dresden Herbstprogramm der Bistums-Akademie
Dresden. Sie gehört zu den stärksten sozialen Stimmen in Deutschland und ist direkt, sobald es um Menschen geht, die am Rand der Gesellschaft stehen. Wenn Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa im Land unterwegs ist, sind soziale Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit der Kern ihrer Botschaft. So auch am 27. August im Haus der Kathedrale in Dresden, als sie das Herbstprogramm der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen eröffnete.
Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Welche Wurzeln tragen die Prinzipien des Sozialstaates und welche Rolle spielt dabei das Christentum? Nur einige Fragen, mit denen sich Welskop-Deffaa an diesem Abend beschäftigt. Ihr Vortrag vor etwa 100 Zuhörenden war mit dem Titel „Die soziale Macht des Christlichen“ überschrieben und trug – zunächst etwas überraschend – die Unterzeile „Über die Tiefengrammatik unseres Sozialstaates“.
Der Sozialstaat lebt von strukturellen Voraussetzungen
Der Begriff der Tiefengrammatik ist von der Linguistik des Amerikaners Noam Chomskys übernommen, andere verwenden den Terminus der „Universalgrammatik“. Meint: Sprache ist zum einem genetisch bedingt und wird andererseits durch spezifisches Wissen erworben und verwendet. Nun ist Welskop-Deffaa keine Linguistin, sondern Wirtschaftshistorikerin, deren Passion das Soziale geworden ist. Gemeinsam mit Chomsky hat sie das politische Engagement, der schon in den 1960er Jahren die amerikanische Außenpolitik kritisierte und durch seine politischen Schriften als der meistzitierte Außenseiter gilt. Die Parallele der Sozialstaatsentwicklung zu Chomskys Spracherwerbstheorien dürfe man aber nicht überstrapazieren, wie sich die Caritas-Präsidentin ausdrückt.
Dass sie sich dennoch davon begeistern lässt, beruht auf der „Einsicht, dass ein Sozialstaat auf strukturell prägenden Voraussetzungen beruht und er nicht ohne Rücksicht auf diese Voraussetzung reformierbar ist.“ Diese Strukturen antworten auf notwendige vorgelagerte Dispositionen “. Zu diesen Dispositionen gehöre unter anderem die Vorstellung von einer „guten Gesellschaft“. Ein „Machtfaktor“ des Christlichen, wie das Thema des Abends verspricht, denn „wo die Erfahrung des religiös tätigen Zeugnisses sozialer Nächstenliebe fehlt, fehlt auch das Verständnis für die Plausibiltät der sozialstaatlichen Lösung.“
Wie aber ist der Sozialstaat geworden, wie er ist? Und was sind die Perspektiven, wenn seine Praxis heute angezweifelt wird? Welskopp-Deffaa markiert zwei „Geburtsstunden“, die „Paradigmen-Entscheidungen“ darstellen und die – das ist der Kern ihrer Entwicklung – christlich beeinflusst sind. Die „Grünphase“ des Sozialversicherungsstaates liege im Bismarckschen Kaiserreich, gleichwohl die Zeit besonders durch Repression und Kulturkampf geprägt war. Es war vor allem „Integrationsfiguren“ wie Ludwig Windhorst oder Bischof Wilhelm Emmanuel Ketteler zu verdanken, dass „mitten in den Wirren der Zeit eine Sozialversicherungsgesetzgebung gelang.“
Eine zweite Zäsur der deutschen Sozialstaatsgeschichte sieht die Caritas-Präsidentin in der Umlagefinanzierung der Renten, das in den Adenauer-Jahren als „effiziente, generationsgerechte Form der Finanzierung von Sozialversicherungsleistungen in einer wachsenden Wirtschaft“ entstanden ist. Kaum denkbar, wenn dieser große Kompromiss nicht gelungen wäre und die Alten nach Krieg, Zerstörung und Vertreibung von der Wohlstandsentwicklung ausgeschlossen wären. Vielleicht wäre der Zusammenbruch der noch jungen Bundesrepublik die Folge gewesen, vermutete die Caritas-Präsidentin.
Christinnen und Christen sollen ihren Einfluss geltend machen
Über diese „Erfolgsgeschichten“, über soziale Gerechtigkeit zu wachen, sieht Eva Maria Welskop-Deffaa als regelmäßige Aufgabe für Kirche und ihre Caritas, „die kulturellen Leitbilder zu stärken, die eine tendenziell universalistische Solidarität“ fördert. „Die christliche Imprägnierung des Sozialstaats hoffen wir dadurch zu stärken, dass wir die gleiche Menschenwürde aller betonen und uns Diskriminierung – etwa nach Alter und Ethnie – vernehmlich widersetzen“. Gleichzeitig rief die Präsidentin Christinnen und Christen dazu auf, ihren Einfluss in der Gesellschaft geltend zu machen, besonders in einer Zeit der „Bedrohung“ durch den Rechtspopulismus.
Im Haus der Kathedrale ist eine rote Tür aufgestellt mit dem Schriftzug „Da kann ja jeder kommen – Caritas öffnet Türen“, der Titel der Jahreskampagne der deutschen Caritas. Sie wirbt für den „Erhalt nicht nur unserer Einrichtungen und Dienste, sondern für den Sozialstaat insgesamt.“ „Sozialpolitik ist für alle da“ – so lautet eine von zehn Thesen der Caritas-Jahreskampagne. Dies bedeute nicht nur Teilhabe für alle zu ermöglichen, sondern auch den modernen Herausforderungen wie Klimasozial- oder digitale Sozialpolitik zu begegnen.
Eva Maria Welskop-Deffaa öffnet an diesem Abend den Menschen die Caritas-Tür: Sachsens Justizministerin Constanze Geiert oder dem Landtagsabgeordneten Martin Modschiedler, Vertretern des Katholikenrates, Mitarbeitern des Diözesancaritasverbandes und vielen anderen. „Solange noch Menschen verstehen, wo die sozialen Exklusionskrisen lauern, ist mir um die Macht des Christlichen nicht bange“, sagte sie.
Text: Andreas Schuppert