„Verantwortung vor Gott und den Menschen“
Bischof Timmerevers zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes am 23. Mai 2024
Dresden. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – dieser erste Artikel des Grundgesetzes steht für mich wie ein geistiges Eingangstor am Beginn unserer Verfassung. Es ist der erste Satz, den sich das deutsche Volk im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen gegeben hat. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damit vor dem Hintergrund unserer Geschichte ein festes Fundament geschaffen, das Christentum und Aufklärung, Glaube und Vernunft verbindet. Der 75. Geburtstag des Grundgesetzes lässt mich dankbar auf dieses gemeinsame Fundament unseres Zusammenlebens blicken.
Fast 35 Jahre nach dem Ende der deutsch-deutschen Teilung erlebe ich das Grundgesetz mehr denn je als eine tragfähige Grundlage, um den Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft zu begegnen. Daher wünsche ich mir, dass wir den Geburtstag unserer Verfassung dazu nutzen, darüber nachzudenken, auf welche Weise wir sie mit Leben füllen können. Für mich als Christen gehört dazu auch, das Bewusstsein für die Frage wachzuhalten, wem gegenüber wir unser Handeln im Letzten zu verantworten haben.
Auf das Verbindende schauen
Wir sollten dieses Jubiläum nutzen, um als Gesellschaft näher zueinander zu kommen und auf das zu schauen, was uns verbindet – in Ost und West, zwischen Jung und Alt, über alle Einkommensschichten hinweg. Wie können wir unsere Verantwortung füreinander aus dem Geist des Grundgesetzes heraus wahrnehmen? Die Unantastbarkeit der Würde am Anfang unserer Verfassung darf keine historische Erzählung werden. Die Unantastbarkeit der Würde aller will ins Jetzt übersetzt werden. Wer Migration steuern will, darf vor lauter Ordnungswillen die Humanität nicht vergessen. Wer Waffen liefert, muss den Frieden suchen wollen. Und wer die Selbstbestimmungsmöglichkeiten am Anfang und am Ende des Lebens liberalisiert, muss auch die Würde derer im Blick behalten, die nicht selbst für sich einstehen können.
Das Eingangstor unserer Verfassung ist – gerade angesichts unserer Geschichte und unserer Verantwortung – der eindringliche Apell: Lasst uns jede Entscheidung in Freiheit so treffen, dass sie vor den Schwächsten bestehen kann. Würde zu kontingentieren oder sie an eine graduelle Lebensfähigkeit zu binden, konterkariert sie. Aus der Perspektive des christlichen Menschenbildes ist uns die Würde von Gott gegeben und ist nicht von menschlichem Ermessen abhängig.
Die Menschenwürde als zentraler Aspekt
Das Grundgesetz schafft dafür einen guten gesetzlichen Rahmen. Aber für den Alltag braucht dieser Rahmen das kluge und besonnene Handeln aller. In einer liberalen Demokratie füllen Werte und Tugenden das Agieren innerhalb von Gesetzen. Unser christliches Wertegerüst ist ein Angebot in einer pluralisierten Gesellschaft, um unser Land menschenwürdig und lebenswert zu gestalten. Wir als Kirchen machen dieses Angebot, weil wir davon überzeugt sind, dass ein gutes Leben im Bewusstsein der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gelingt.
Angesichts der bevorstehenden politischen Wahlen in unserem Land werbe ich deswegen dafür, Parteiprogramme unter dem Aspekt der Menschenwürde zu betrachten. Wer tritt in welcher Weise für die Würde des Menschen und das Recht auf Leben ein? Wird dies exklusiv nur einigen zugesprochen oder gilt die Menschenwürde für alle? „Die Würde des Menschen ist unendlich“, wie es programmatisch in der jüngsten römischen Erklärung „Dignitas Infinita“ zur Menschenwürde heißt.
Am 75. Jahrestag unserer Verfassung wünsche ich uns als Bürgerinnen und Bürgern, dass die verbriefte unantastbare Würde eines jeden Menschen unverbrüchliche Maxime bleibt. Als Christinnen und Christen wünsche ich uns den Mut, hör- und sichtbar dafür einzutreten und uns dafür auch mitgestaltend in politische Prozesse in diesem Land einzubringen.
+ Heinrich Timmerevers, Bischof von Dresden-Meißen